Page 2 - GB-Herbst 2022
P. 2

Liebe Leserin, lieber Leser!

        Nachdenken über zwei Feiertage

                                                 Reformationstag am Montag
                                               und Allerheiligen am Dienstag, der
                                               eine Tag hier, der andere dort ein Fei-
                                               ertag – da prallen Gegensätze auf-
                                               einander. Zu Zeiten, in denen der
                                               ökumenische Gedanke noch nicht
                                               so hochgehalten wurde  wie heute,
                                               konnte auch das zeitliche Nebenein-
        ander von Reformation und Allerheiligen zu nicht nur verbalen Entgleisungen
        führen. Es scheinen ja auch Welten zwischen den Inhalten dieser beiden Tage
        zu liegen: Auf der einen Seite die Reformation, die einherging mit einem Bil-
        dersturm gegen die Heiligen – auf der anderen Seite die Verehrung gerade dieser
        Heiligen an einem eigenen Tag.
           Dennoch gibt es auch Verbindendes zwischen Reformationstag und Allerhei-
        ligen. Bevor ich meine Behauptung begründe, noch eine Bemerkung: Allerhei-
        ligen darf nicht mit dem Allerseelentag am 2. November verwechselt werden,
        auch wenn der Inhalt und das Brauchtum des Allerseelentages – das Gedenken
        an die Verstorbenen und der Besuch und das Schmücken ihrer Gräber – sich
        mehr und mehr auf den in manchen Bundesländern arbeitsfreien Allerheiligen-
        tag verlagert hat. Der Allerheiligentag ist, wie der Name schon sagt, Gedenktag
        aller Heiligen, besonders der unbekannten, die sonst keinen Gedenktag haben.
           Doch nun zum Verbindenden: Reformationstag und Allerheiligen teilen sich
        das gleiche Evangelium, die Seligpreisungen Jesu, wie sie der Evangelist Matthä-
        us überliefert: Matthäus 5,1-12a.
           Die Seligpreisungen gelten als die „Magna Charta“ des christlichen Glau-
        bens. Doch sie sind viel mehr als ein „schönes Stück“ Weltliteratur. Ihre Wucht
        erklärt sich daraus, dass sie beim Lesen eine gewisse innere Unruhe erzeugen.
        Zumindest mir geht das so, wenn ich sie lese oder höre. Für die Seligpreisun-
        gen gilt im besonderen Maße das, was der katholische Theologe Karl Rahner


        2
   1   2   3   4   5   6   7